DAS LEADAWARDS SYMPOSIUM
Online-Trends 2005
Undercover Media - Liebesgrüße aus der Blogosphere
Vortrag von Andreas Steinle anlässlich des LeadAwards-Symposiums 2005
Es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Zuerst die Gute: Das Netz lebt. Immer mehr Menschen sind online. Immer mehr Inhalte werden online abgerufen. Im Internet entfaltet sich eine Dynamik, an die nach dem New Economy Crash kaum einer mehr glauben wollte. Nun die schlechte Nachricht. Die Zeitschriftenverlage profitieren nicht von dieser Dynamik. Das Netz wird von ihnen meist zur Resteverwertung genutzt. Sie setzen weiter auf das alte Prinzip, gedruckte Inhalte gegen Anzeigenerlöse gewinnbringend einzutauschen. Dieses Prinzip stößt an seine Grenzen, denn die Verlage haben ihr Monopol auf Informationen verloren. Die User werden selbst zu Redakteuren, kreieren ihre eigenen Titel im Netz. Eine Heerschar von Menschen betätigt sich als freischaffende Autoren, die in Weblogs über ihren Alltag oder über ihre Interessen schreiben. Es ist ihnen egal, ob sie eine Leserschaft finden. Es ist ihnen egal, ob sie dafür bezahlt werden. Genau diese Haltung macht sie zu einer neuen Macht auf dem Informationsmarkt.
Die Intelligenz der Schwärme
Professionellen Medienmachern fällt es schwer, die autodidaktischen
Amateure auf dem Informationsmarkt als Konkurrenz zu betrachten. Eine
Fehleinschätzung: Ein Einzelner mag vielleicht nicht gegen eine
gut ausgestattete Redaktion anschreiben können. Doch im Netz ist
keiner allein. Die Möglichkeiten, sich zusammenzuschließen,
sind unbegrenzt. Genau das passiert bei der Online-Enzyklopedie Wikipedia,
die
ausschließlich aus Beiträgen der Nutzer besteht. Jeder hat
die Möglichkeit, neue Wörter zu erklären oder alte Definitionen
zu überarbeiten. Inhaltliche Fehler können also jederzeit korrigiert
werden. Bei Wikipedia zeigt sich Schwarm-Intelligenz. Mag der einzelne
Fisch auch daneben liegen. Der Schwarm wird es korrigieren.
Mittlerweile erhält die Online-Enzyklopädie über 300 Mio Zugriffe
im
Monat. Seit Mai 2001 wurden mehr als 200.000 deutsche Artikel von den
Usern eingepflegt. Derweil gibt es Wikipedia in mehr als 100 Sprachen.
Darunter so exotische wie Aragonesisch, Färöisch, Javanesisch,
Nauruisch oder Zulu. Wikipedia ist das Musterbeispiel der
Inhaltsvariante der Open-Source-Bewegung. Und es bekommt immer mehr
Blüten. Speziallexika wie Jurawiki bedient gezielt die juristische
Klientel. Manch ein Fachverlag wird zwar immer noch behaupten, die
deutlich bessere Qualität zu liefern. Es wird ihm nur nicht viel
nutzen, wenn die User das freie Online-Angebot attraktiver finden. Ob
man es nun wahrhaben will oder nicht: Hier entsteht eine Konkurrenz
zum Kerngeschäft der Verlage.
Es bleibt abzuwarten, in welche journalistischen Bereiche Wikipedia
noch vordringen wird. Seit Ende 2004 gibt es mit Wikinews nun auch
eine tagesaktuelle "freie Nachrichtenseite". Mit ihr wird versucht,
der Idee des Bürgerjournalismus neuen Auftrieb zu geben. Wie die
Initiatoren schreiben, basiert sie auf dem Glauben, "dass wir
gemeinsam eine großartige und einzigartige Nachrichtenquelle aufbauen
können." Die Stärken von Wikinews werden wahrscheinlich nicht
in der
analytischen Reflexion überregionaler politischer Ereignisse liegen.
Doch in der lokalen Berichterstattung könnte der neue
Bürgerjournalismus Punkte machen. Für die stark ausgedünnten
Zeitungsredaktionen sind Aufwand und Kosten zu groß geworden, einen
Journalisten für die Berichterstattung über das Straßenfest
loszuschicken. Nicht so für einen Wikinews-Autor, der sowieso auf dem
Fest ist und Lust hat, über das, was er sieht, zu schreiben. Allen
kulturpessimistischen Stimmen und Pisa zum Trotz: Das Internet führt
nicht zur Auflösung der Wortkultur. Im Gegenteil: Die geringere
Hemmschwelle beim elektronischen Publizieren motiviert zur
schriftlichen Meinungsäußerung.
Der Charme des Persönlichen
Der Amateur-Journalismus in Foren wie Wikinews oder in privaten
Weblogs bekommt seinen Charme durch die Dominanz des Subjektiven. Das,
was im klassischen Journalismus streng verpönt ist, wird hier als
Stärke gesehen. So ist die "ich"-Form in den privaten Aufzeichnungen
selbstverständlich. Es gilt, mit dem persönlichen Blick eine andere
Perspektive auf die Welt zu werfen. Bei blogger.com findet sich
folgende Definition: "Ein Blog ist ein persönliches Tagebuch. Ein
Raum
für Zusammenarbeit. Eine politische Bühne. Ein Ventil für Nachrichten.
Eine Sammlung interessanter Links. Ihre ganz privaten Gedankennotizen
für die Welt." Oder wie es der Blogger Don Alfonso ausdrückt: "Blogs
sind der Stoff aus dem die Alpträume der Chefredakteure gemacht sind." Die
Texte halten mitunter journalistischen Kriterien nicht stand. Doch dafür haben sie eine unverwechselbare Identität,
einen eigenen Stil. Sie grenzen sich ab von den großen Portalen mit ihren
immer gleichen Texten zum gleichen Thema, hergestellt von den immer gleichen
Agenturen. Die Blüte der Blogs lässt sich auch als Reaktion auf die
herrschenden Mediendefizite erklären. Mittlerweile soll es rund 50.000
Weblogs im deutschsprachigen Raum geben. In den USA sollen es gar mehr
als 7 Mio sein. Genaue Statistiken gibt es leider nicht. Doch die
Tendenz ist eindeutig: Es werden immer mehr.
Die Weblogs treffen die Verlagsbranche in ihrem wirtschaftlichen
Kern. Auch wenn viele der privaten Auftritte kaum Beachtung finden und
eine erfolgreiche Seite wie "Le Sofa Blogger"(http://arrog.antville.org)
mit 3000 Besuchern pro Tag bereits zu den meistgelesenen Blogs in Deutschland
gehört: Die Summe macht's. Das
verdeutlicht folgende Rechnung. Gibt es in einer Stadt 1.000 Blogger
und erhält jeder davon nur 100 Besucher pro Tag, so versammeln sich
100.000 Leser auf die privaten Online-Blätter. Verglichen mit einem
Print-Titel ist das eine ernstzunehmende konkurrierende Auflage. Man
sollte jedoch nicht nur die ökonomische Relevanz betrachten. Auch
inhaltlich entsteht eine neue politische Kraft in der
Presselandschaft. Weblogs sind mehr als nur Egosülze. Sie haben den
letzten US-Wahlkampf entscheidend mitgeprägt. Als der renommierte
CBS-Moderator Dan Rather Dokumente vorlegte, aus denen hervorging, wie
sich der Präsidentschaftskandidat George Bush in seiner Militärzeit
vor einem Einsatz im Vietnamkrieg drückte, äußerten Blogger
ihre
Zweifel an der Echtheit der Dokumente. Die Zweifel mehrten sich. Die
Echtheit der Dokumente konnte nicht einwandfrei belegt werden.
Schlussendlich stand die Glaubwürdigkeit von CBS auf dem Spiel und der
Starmoderator musste seinen Hut nehmen. Die Geschwindigkeit und
Brisanz, mit der die Debatte eskalierte, kommentierte die Washington
Post folgendermaßen: "Es war wie ein Streichholz auf Benzin getränktem
Holz." Mit den Weblogs entsteht eine neue Form des
Graswurzeljournalismus, der eine hohe Glaubwürdigkeit besitzt, weil er
keine kommerziellen Interessen verfolgt. Veröffentlicht von Leuten mit
Galle in der Schreibe, subjektiv, rücksichtslos und an Redakteur und
Lektorat vorbei.
Die Rückkehr der Utopie
Bei aller Subjektivität, die in den Weblogs herrscht, sind
journalistische Prinzipien nicht völlig außer Kraft gesetzt. Beim "Bildblog" (www.bildblog.de)
beispielsweise herrscht der Anspruch, die
Artikel der Bild-Zeitung gründlich nachzurecherchieren und auf deren
Fehler, Ungereimtheiten und Übertreibungen hinzuweisen. Wie die Macher
schreiben, geht es um "die kleinen Merkwürdigkeiten und das große
Schlimme". Zum besseren Verständnis des größten deutschen
Blattes kann
der interessierte User in einem "Bild"-Wörterbuch Begriffe wie "Nippel-Alarm" ("kurzzeitiger Blick auf sekundäres
Geschlechtsmerkmal prominenter Frauen") oder "Tanga-Terror" nachschlagen.
Bis dato gibt
es im deutschsprachigen Raum nur wenige Blogs, die so dezidiert ein
redaktionelles Konzept verfolgen und gleichsam einen journalistischen
Anspruch haben. Eine Bewertung und Prämierung von Weblogs im Rahmen
der LeadAwards blieb daher bislang aus. Die Jury wird jedoch genau
prüfen, ob im nächsten Jahr eine eigene Kategorie für Weblogs
eingeführt werden kann. Andernorts lässt sich bereits eine
Professionalisierung beobachten. So können sogar manche Blogger mit
ihren Online-Blättern ein kommerzielles Auskommen erzielen. Der
Wirtschaftsjournalist Rafat Ali aus London mit seinem Blog "PaidContent" (www.paidcontent.org)
finanziert sich beispielsweise durch Werbung, die er auf seiner Seite schaltet.
Andrew Sullivan aus
den USA erwirtschaftet sein Gehalt vornehmlich durch Spenden.
Der Erfolg der Weblogs lässt Erinnerungen an die anfänglichen
Visionen der New Economy wach werden: mit dem Internet einen
Kommunikationsraum zu schaffen, der Menschen verbindet und zur freien
Meinungsäußerung motiviert. Nur wenige Print-Titel bedenken diesen
Grundsatz in ihrem Online-Auftritt und verschenken damit die
Möglichkeit zur Leserbindung. Positiv hervorzuheben ist das Magazin
Neon, dessen Online-Version hauptsächlich auf Texten der Leser
basiert. Es sind Kommentare auf Artikel aus dem Magazin oder
eigenständige Texte zu Themen wie: "Wir wollen riesige Brüste
ohne
Rückenschmerzen". Im Unterschied zu den Online-Auftritten anderer
Verlagsblätter wird der Austausch der User nicht in die Tiefen von
Foren verbannt, zu denen etliche Clicks nötig sind, sondern findet auf
der Startseite statt. Die Neon-Macher formulieren ihre Absicht
folgendermaßen: "Wir wollen euch die Möglichkeit geben, selbst
Teil
der Neon-Website zu werden." Das Blatt richtet sich damit an eine neue
Generation von Mediennutzern, die nicht nur an Information, sondern
vor allem an Kommunikation interessiert ist. Letztere ist nicht allein
auf das Medium Text beschränkt. Beim Photoblog "flickr" (www.flickr.com)
beispielsweise speisen User ihre Bilder ein und versehen diese mit tags, die
den Inhalt beschreiben. Auch von den
anderen Usern sind die Bilder, sogar einzelne Pixels, kommentierbar. Über
diese Tags bilden sich dann Gruppen, die zuvor gar nicht wussten, dass sie
eine Gruppe sind. Die Squared Circle Group beispielsweise
vereint Menschen, die runde Dinge quadratisch fotografieren. So bildet
sich ein semantisches Netz, in dem alles miteinander verwoben ist und
in dem Kommunikation über Bilder so selbstverständlich ist wie über
Text. Social Networks stehen im Zentrum der Netzkommunikation von
morgen. Die Verlage können an dieser Entwicklung teilhaben oder sie
ignorieren. Ein Gewinner steht auf jeden Fall fest: der User.
Andreas Steinle ist Trendforscher und Geschäftsführer des Trendbüro Hamburg.
Sie erreichen ihn unter andreassteinle@hotmail.com.